Der Kopfball |
Es war wie immer. Den ganzen Tag hatte es schon in Strömen geregnet, aber Herr Lutz bestand darauf, daß wir auf den Außenplatz und nicht in die Halle gingen. Herr Lutz war unser Sportlehrer, und jeden Donnerstag nach der großen Pause standen wir für eine Doppelstunde unter seinem Kommando. Im eigentlichen Sinne war er nicht streng mit uns. Seine Parolen jedoch, die über den ganzen Sportplatz hallten, dienten bisweilen der Belustigung eines Teils der Klasse auf Kosten des anderen Teils der Klasse: "Hast Du drei Beine oder warum hüpfst Du wie ein Känguru?". Für seine Sprüche mochten und fürchteten wir ihn.
Zunächst hatten wir die Aufwärmrunde zu bewältigen. So hießen die tausend Meter, die wir auf der Tartanbahn hinter uns zu bringen hatten. Mich quälten bereits nach einer Runde Seitenstiche. Ich konnte regelmäßig atmen oder überhaupt nicht. Es nützte alles nichts, die Schmerzen wurde ich nicht mehr los. Unser Sportlehrer stand mit der Stoppuhr in der Hand am Ende der Tribünengeraden und rief uns die Durchgangszeiten zu. "Einszweiundfünfzig Tommi! Das werden ja fast fünf Minuten!" Mich beruhigte Gedanke, daß wirklich niemand an der Lauferei Spaß hatte. Man musste die erste halbe Stunde einfach die Zähne zusammenbeißen, denn erst danach widmeten wir uns einer Mannschaftssportart oder trainierten Leichtathletik. Es war also ein Tag wie immer. Heute sollten wir Fußball spielen. Der Rasen war vor lauter Pfützen kaum noch zu erkennen. Herr Lutz schrie quer über den Platz "Regnen tut es, wenn meine Jackentaschen überlaufen!" Ich konnte aus der Ferne nicht so genau erkennen, ob sie es heute taten, aber möglich wäre es gewesen. Vor dem Spiel mussten diejenigen, die nicht bereits jahrelang im Verein Fußball spielten, die Prozedur der Mannschaftsauswahl über sich ergehen lassen. Die zwei von Herrn Lutz bestimmten Kapitäne wählten abwechselnd ihre Mitspieler aus. Natürlich wurde ich als Drittletzter in das Team von Stefan gewählt, denn ich konnte zwar aus dem Stand und bei einiger Vorbereitungszeit eine anständige Flanke spielen. Während des Laufens jedoch wollte der Ball einfach nicht in der Nähe meiner Füße bleiben. Ich war Stefan dankbar dafür, daß er mich nicht als letzten Spieler gewählt hatte. Das war nicht immer so. Das Spiel war zäh. Manche von uns blieben gleich im eigenen Strafraum und warteten lieber den Gegenangriff ab. Im wesentlichen spielten vier oder fünf Jungs von uns etwas, was man Fußball nennen konnte. Der Rest der Klasse blödelte herum oder widmete sich genau definierten Spezialaufgaben. Meine war es, in der Abwehr zu stehen und den Rechtsaußen der Gegenmannschaft zu decken, sobald er in die Nähe des Tores kam. Tatsächlich war der Radius um das Tor herum, innerhalb dessen eine realistische Chance auf einen Treffer bestand, höchstens fünfzehn bis zwanzig Meter. Für mehr reichten weder unsere läuferischen, noch unsere spielerischen Fähigkeiten. Drei Minuten vor Abpfiff stand es immer noch null zu null. Dann erkämpften wir uns eine der seltenen Ecken, und die ganze Mannschaft stellte sich in den gegnerischen Fünfmeterraum. Ich stand nur wenige Meter vom hinteren Pfosten entfernt, natürlich vollkommen ungedeckt, denn das hielt nun wirklich niemand für nötig. Ich konnte den Ball zuerst gar nicht erkennen, so schwarz war der Himmel von all den Regentropfen. Dann aber steuerte er in einem weiten Rechtsschwung direkt auf mich zu. Ich stand völlig still. Mit einem lauten Klatschen traf der Ball direkt meinen Kopf, und ich leistete immerhin so viel Widerstand, daß ich nicht nach hinten überfiel. Ich spürte einen kurzen Schmerz in der Nase, während ich sah, wie der Ball ins lange Eck tauchte. Stefan schrie auf. "Tor! Tommi, Tooor!" Da hingen sie schon alle an mir dran, umarmten mich, klatschten mich ab. Noch nie zuvor hatte ich beim Fussballspielen ein Tor geschossen. In der Umkleidekabine erzählten wir uns wieder und wieder wie das Tor zustandekam. Jeder hatte eine geringfügig andere Version zu bieten, die um so besser ankam, je weiter sie sich von der Realität entfernte und je mehr wir darüber lachen konnten. Ich ließ nicht unerwähnt, welche Opferbereitschaft ich gezeigt hatte, als ich beinahe meine Nase für das eins zu null unserer Mannschaft aufs Spiel gesetzt hatte. Alle waren sich einig, daß dies eines der schönsten Tore war, die wir je herausgespielt hatten. Noch am nächsten Tag war ich der Held unserer Klasse und fühlte mich großartig. Nachdem ich jedoch in den Folgewochen meinen Ruf als "Kopfballmonster" nicht rechtfertigen konnte, war alles bald schon wieder beim alten. Ich musste darum bangen, nicht als Letzer aufgerufen zu werden, und die anderen schimpften mit mir, wenn ich meine Abwehraufgaben vernachlässigte und stattdessen lieber nach vorne lief. Wieder und wieder stellte ich mich vor das gegnerische Tor, wann immer wir einen Freistoß oder Eckball auszuführen hatten. Doch niemals mehr regnete es so wie an jenem Tag, und vermutlich lag es daran, daß ich kein zweites Kopfballtor in meinem Leben geschossen habe. |
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