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Franziska war unsicher. Das Gesicht, in das sie schaute, strahlte sie an. Es wirkte sympathisch, weckte aber nicht die geringste Erinnerung in ihr. Sie musste sich zwingen, ihr Gegenüber herzlich zu begrüßen. Denn offensichtlich erkannte der Mann mit der Glatze sie sehr wohl. Er sah alt aus. Viel älter als sie. Dessen war sie sich sicher. Die wenigen Haare, die ihm noch geblieben waren, formten einen unschönen Halbring auf seinem Hinterkopf. Grau, schütter, unansehnlich. Es wäre besser gewesen, auch diesen traurigen Rest abzurasieren. Das hätte ihm wenigstens etwas mehr Männlichkeit verliehen. Aber so wirkte er kraftlos. Sein Körper ohne Haltung. Nicht in sich zusammengefallen, aber doch unnötig gekrümmt und verzogen. Obwohl er nicht klein war, mindestens einen Kopf größer als sie. Die beige Bundfaltenhose und das blassblaue Hemd, wenngleich makellos gebügelt, machten aus ihm auch keinen Jüngling. Dazu trug er braune, unauffällige Halbschuhe, die unter dem leicht abgenutzten Hosenabsatz kaum hervorschauten. Einzig seine blitzenden grau-grünen Augen verrieten, dass er einmal jünger, beweglicher, ja vielleicht sogar maßloser gewesen sein musste.
“Franziska!”, rief er freudig aus, als er sie auch schon umarmte. Auch Franziska umarmte ihn. Sein Geruch, nicht unangenehm, wurde nur wenig von einem dezent aufgetragenen Herren-Duft überlagert. Es wühlte in ihrem Kopf, ein Name. Sein Name. Er lag ihr auf der Zunge. Doch obwohl ihr dieser Moment wie eine Ewigkeit vorkam, konnte sie ihn nicht aus dem Erinnerungsschutt der letzten 20 Jahre freilegen.
“Hans! Ich bin Hans”, erlöste sie der Mann aus dieser peinlichen Situation. Dabei hatte sie sich schon wieder aus der Umarmung befreit. Hans hielt sie an weit ausgestreckten Armen und strahlte über das ganze Gesicht.
“Hans! Meine Güte! Fast hätte ich dich nicht erkannt”, rief Franziska in einer hohen, piepsigen Stimme, die ihr selber ganz unangenehm war, aber die sie in solch peinlichen Situationen einfach nicht in der Lage war unter Kontrolle zu bringen.
“Ja, die Haare sind weg”, erwiderte er lachend und strich sich dabei mit der linken Hand über den Kopf. “Hattest du nicht damals immer eine Brille getragen?”, fragte Franziska.
“Das stimmt!. Aber irgendwann hat meine Frau mich dazu überredet, mir die Augen lasern zu lassen. Mir selber wäre das nicht so wichtig gewesen. Aber nun bin ich sehr zufrieden damit.”
“Du bist verheiratet?”, erkundigte sie sich. Sie fand das überraschend, wenngleich er tatsächlich ein wenig danach aussah. So ordentlich. So verantwortungsvoll. Vielleicht hatte er ja sogar Kinder. “Und Kinder hast du auch?” schob sie also hinterher.
“Ja, ja! Zwei. Unsere Tochter ist schon vierzehn und mein Sohn neun. Bald sind sie alt genug und wir die Sorgen los!”, dabei lachte er. “Meine Frau arbeitet in der Charité, als Anästhesistin. Aber genug von mir. Du bist nicht mehr in Berlin, oder? Wo lebst du jetzt?”
“Ja, das stimmt.” Franziska erzählte in Kurzform, dass es sie nach Madrid verschlagen hatte. Schon vor fünfzehn Jahren, gleich nach Ende des Studiums. Dort arbeitete sie in einer renommierten Unternehmensberatung und betreute Mandanten aus dem spanischsprachigen Ausland. Sie war viel auf Reisen. Oft nach Argentinien. Anfangs hatte sie dies noch genossen, aber nach ein paar Jahren hatte sie genug von der Welt gesehen. Sofern man auf Business-Trips überhaupt etwas von den Ländern, die man besucht, mitbekommt. Sie wollte viel lieber mehr Zeit mit ihrer Familie verbringen. Sie hatte drei Kinder, die alle innerhalb von nur 5 Jahren zur Welt gekommen waren. Die Älteste war erst sieben. Ihr Mann war Spanier. Daher sprachen die Kinder fließend Deutsch, Spanisch und Englisch mit dem Kindermädchen. Aber verheiratet war sie mit dem Vater ihrer Kinder nicht. Und irgendetwas in ihrem Tonfall sagte Hans, dass die Beziehung zu ihrem Mann die besten Zeiten hinter sich hatte. Diese Kurzfassung ihres Werdegangs seit dem Ende der Schulzeit hatte Franziska heute schon mehrfach zum Besten gegeben. Aber so ist das bei einem Abitreffen, dachte sie sich.
…
Alexander war bereits hellwach als der Gong ertönte. Er hatte sich derart an den Rhythmus des Klosters gewöhnt, dass er immer schon eine halbe Stunde vor dem Weckruf die Augen offen hatte. Weiterhin im Bett liegenbleibend lauschte er dem Vogelgesang und stellte sich anhand des Lichteinfalls in sein Zimmer vor, ob es heute bewölkt oder sonnig sein würde. Jetzt im Sommer bevorzugte er die bewölkten Tage, wenn es in den Gemäuern des Klosters nicht so heiß werden würde und die Stimmung unter den anderen Mönchen verhalten blieb. An einem sonnigen Tag jedoch surrte das Gebäude wie ein Bienenstock. Die Luft füllte sich mit allerlei unnötigem Geschrei und Gelächter. Und zur Hitze gesellte sich ein bisweilen höchst unangenehmer Geruch, der einem aus den Waschbecken oder Toiletten entgegenschlug, wenn man ihnen zu nahe kam.
Noch war alles ruhig auf dem Flur. Es dauerte immer ein paar Minuten, bis er die ersten Stimmen auf dem Gang vor seinem Zimmer vernehmen konnte. Alexander nutzte diesen Moment, um noch einmal dem Kuckuck zu lauschen, der sich schon seit dem Sonnenaufgang bemerkbar machte. Ohne aus dem kleinen Fenster zu schauen, wusste er, dass der Vogel in der alten Tanne sitzen musste, weil sein Ruf von oben zu kommen schien. Die hohe Tanne stand außerhalb des Klostergartens, direkt hinter der Mauer, an die der Stadtwald angrenzte. Vor Alexanders innerem Auge erschien die Aussicht aus seinem Fenster, wie ein Gemälde. Nicht in Öl, eher in Wasserfarben, die ineinanderflossen, verblassten, nur um von ihm wieder mit neuen Pigmenten aufgefrischt zu werden. Ganz so wie er es wollte, wie er es für richtig hielt. Mit dem kräftigen Pinselstrich des Gedankens malte er den Klostergarten unter seinem Fenster, der jetzt in voller Blütenpracht stand. Er sparte nicht mit Lila, Rosa und Türkis. Er tupfte ein dunkles Braun in die Ritzen der Mauer, so dass sie hervor traten und pulsierten wie die Adern an einer alten Hand. Mit wenigen gekonnten Strichen skizzierte er die Umrisse der alten Tanne und wusste, dass dort, dort oben, der Kuckuck sitzen würde.
Mittlerweile war Leben in den Gang des Schlaftrakts gekommen. Alexander hörte Stimmen und das gedämpfte Geklapper von Schritten. Schon klopfte es an seine Tür. “Guten Morgen Alexander, das Frühstück steht bereit”, hörte er den Mönch mit freundlicher Stimme rufen. Als hätte er es nicht schon gewusst. Jeden Morgen war es dasselbe, wenngleich es nicht immer der selbe Mönch war, der den Weckdienst übernahm. Alexander setzte sich auf die Kante seines Bettes und suchte mit seinen Füßen nach den Pantoffeln. Der Boden war kalt und auf unangenehme Weise glatt. Er vermied so gut es ging, diesen zu berühren. Als er endlich in beide Pantoffeln geschlüpft war, stand er auf, ging zum Waschbecken und wusch Hände und Gesicht, ohne dabei in den Spiegel zu schauen. Das genügte ihm. Er zog den Trainingsanzug an, der noch über dem Stuhl neben seinem Bett hing und den er die Tage zuvor auch schon getragen hatte. Dann öffnete er die Tür, die nachts niemals verschlossen war, und trat hinaus auf den Flur.
…
Der Abitur-Jahrgang des Jahres 1989 war mittlerweile in der altehrwürdigen Aula des um 1900 erbauten Schulgebäudes versammelt. Alle unterhielten sich angeregt. Gelächter hallte von den braunen holzgetäfelten Wänden wider. Die knapp siebzig Ehemaligen machten kaum weniger Lärm als eine heutige Klasse, so erschien es dem Rektor. Herr Laumann ging auf seine wohlverdiente Pensionierung zu. Vor zwanzig Jahren, als er noch ausschließlich Lehrer für Geschichte und Latein war, hatte ein Großteil der an diesem Tag Versammelten irgendwann auch einmal Unterricht bei ihm gehabt. Auch wenn ihn daher Alle erkannten und herzlich begrüßt hatten, vermochte er sich lediglich an eine Handvoll seiner Ex-Schüler zu erinnern. Zu viele, ja es mögen tausende Kinder und Jugendliche gewesen sein, hatte er im Lauf der Jahre betreut. Und auch wenn man so etwas als Pädagoge nicht laut sagen durfte, an das Individuum im Menschen glaubte er nur bedingt. Er kannte im Grunde nur zwei Dutzend Charaktertypen, in die man die meisten Menschen einsortieren konnte. Allzu vorherbestimmt erschien ihm das Schicksal vieler seiner Schützlinge. Heute noch still und angepasst, morgen schon hinter dem Schalter einer Bankfiliale. Heute schon auf Äußerlichkeiten und Renomée bedacht, morgen schon selbständige Immobilienmaklerin. Heute introvertiert und und schlecht in Deutsch, morgen schon Ingenieur bei einem großen Automobil-Konzern. Aber es gab auch die Anderen. Wie Martin zum Beispiel, den er sehr wohl wiedererkannt hatte, auch weil er regelmäßig in der Berliner Abendpost politische Leitartikel verfasste, die Herr Laumann mit Freude laß. Dann war da Robin, der ein erfolgreicher Unternehmer geworden war und den man sogar ab und an im Fernsehen in irgendeiner Talkshow bewundern durfte. Obwohl dieser zu Schulzeiten eher unauffällig war, wie Herr Laumann sich eingestehen musste. Vielleicht hatte er auch einfach Glück gehabt wie das so oft mit dem Geldverdienen ist. Franziska war geradezu zur Unternehmensberaterin vorherbestimmt gewesen, war sie doch in seinem Unterricht stets argumentativ stark aufgetreten, ja beinahe schon vorlaut. Auch die Jungen hatten gegen sie in Diskussionen keine Chance. Herr Laumann erinnerte sich auch an Alexander, obwohl dieser heute nicht dabei sein konnte, wie ihm Martin gesagt hatte. Alexander war vielleicht der Intellektuellste seines Jahrgangs, was sich jedoch nicht in seinen Noten widerspiegelte. Wenn er sich überhaupt einmal mündlich am Unterricht beteiligte, dann lauschte der ganze Kurs. Er war belesen, wählte seine Worte mit bedacht und wirkte in Allem viel reifer, viel nachdenklicher als seine Mitschüler. Alexander war der einzige Schüler, den Herr Laumann während seiner langen Laufbahn kennengelernt hatte, der ihn verunsichern konnten, ja der ihn wie den Schüler hatte aussehen lassen können. Das hatte Herr Laumann bis heute nicht vergessen.
Der Rektor war mittlerweile an den Rednerpult getreten, hier und da noch Jemandem die Hand schüttelnd. “Liebe Ehemalige! Liebe Absolventen des Goethe-Gymnasiums!”, hob er an. “Es ist mir eine besondere Freude und Ehre, dass Sie das zwanzigjährige Jubiläum Ihres Abiturabschlusses gemeinsam mit mir und den anderen heute hier versammelten Lehrern an unserer alten gemeinsamen Wirkstätte begehen. Wie Sie sehen, sind Ihre alten Lehrer mit den Jahren grauer geworden, ein Schicksal, dass wir - wovon ich mich heute überzeugen konnte - allerdings mit dem einen oder anderen von Ihnen teilen.” Die Schüler lachten und lauschten angeregt der amüsanten und gewohnt launigen Rede ihres ehemaligen Lehrers. Herr Laumann sprach über das für Berlin und Deutschland so wichtige Jahr 1989, die Ereignisse, die nur wenige Monate nach dem Abitur des Jahrgangs Geschichte schrieben und welche Auswirkungen dies auf ihre Schule in den Folgejahren hatte. Er vergaß auch nicht - wie stets in seinen offiziellen Reden - auf den Namensvater des Gymnasiums zu verweisen und dass der Stadtteil Tegel, in dem die Schule sich befand, schließlich sogar im Faust erwähnt werde. Er drückte seine Freude darüber aus, dass eine Mitschülerin des Jahrgangs heute als Mathelehrerin das Kollegium verstärkte, was er als besonderen Ritterschlag für die von den Ehemaligen genossene Ausbildung verstanden wissen wollte. Alles in allem zeigte er sich glücklich, dass scheinbar aus allen Anwesenden anständige Mitbürger geworden seien. Natürlich vermied er es auch nicht, auf die Möglichkeit einer Spende für die Schule hinzuweisen, die besonders Schülern aus ärmeren Familien zugute kommen würden, indem davon Lehrmittel oder Klassenfahrten finanziert würden.
Franziska hing während der gesamten Rede an den Lippen ihres ehemaligen Lehrers. Sie saß zwischen Hans und Stefan, mit dem sie eigentlich nie viel zu tun hatte, der sie aber heute damit überrascht hatte, dass er Professor für Technische Visualisierung an einer Kunsthochschule geworden war. Und obwohl sie die Rede sehr genoss, war es für sie jedoch nicht zu übersehen, dass Herr Laumann müde und schlaff wirkte, dass die fast vierzig Jahre Schuldienst nicht spurlos an ihm vorübergegangen waren. Das weckte ihr Mitleid. Ja ein bisschen tat er ihr auch vor zwanzig Jahren schon Leid, dachte sie.
…
Der lange Gang zum Refektorium roch nach frischem Bohnerwachs. Ganz wie damals die Flure seiner alten Schule, dachte Alexander. Er hatte diesen Gedanken eigentlich jeden Tag und doch erschien er ihm auf eine gewisse Weise jedes Mal aufs Neue originell zu sein. Auf seinem Weg zum Frühstück grüßte Alexander keinen seiner Brüder, obwohl es den Anschein hatte, denn er lächelte und deutete mit einem unmerklichen Nicken seines Kopfes an, dass er die andere Person wahrgenommen hatte. Die anderen Brüder, die gerade aus ihrem Schlafstuben heraustraten oder noch einmal hineingingen, weil sie etwas vergessen hatten oder vielleicht auch schon vom Frühstück zurückkamen, grüßten Alexander hingegen zumeist hörbar laut und freundlich. Alexander betrat den Essenssaal, der in unangenehm helles Neonlicht getaucht war. Das Licht war auch am hellichten Tag dringend vonnöten, denn der Saal lag im Souterrain des Gebäudes. Die wenigen Fenster hingen direkt unter der Decke wie Schießscharten und waren zudem von außen von Efeu überwuchert, der den Gittern davor ein freundlicheres Aussehen verlieh.
Es herrschte reger Betrieb. An der Essensausgabe hatte sich eine kleine Schlange gebildet. Doch wer mit seinem gut gefüllten Tablett bereits nach einem Tisch Ausschau hielt, hatte die freie Auswahl, denn der Saal war groß. Jeder konnte sich aussuchen, ob er lieber allein oder in Gesellschaft essen wollte. Man sah kleine Gruppen von zwei, höchstens drei Mönchen zusammensitzen und sich gedämpft unterhalten. Aber es gab auch die Einzelgänger, die es vorzogen, in der Tageszeitung zu blättern oder auch einfach nur auf den Teller vor sich starrten. Alexander nahm sich eine Müslischale aus der Vitrine, dazu ein Glas Milch und eine kleine Wasserflasche, die er sich für später aufheben würde. Er ging zu dem Tisch, an dem er immer aß, vorne rechts, nahe am Ausgang. Wie jeden Morgen saß dort bereits Bruder Klaus an seinem Platz. Alexander setzte sich ihm schräg gegenüber, so dass beide ihre Beine unter dem Tisch ausstrecken konnten, ohne sich in die Quere zu kommen. “Guten Morgen, Alexander”, begrüßte ihn Klaus. “Haben Sie heute verschlafen?”
“Nein”, antwortete Alexander einsilbig und vermied es dabei, seinem Sitznachbarn ebenfalls einen guten Morgen zu wünschen. Alexander ärgerte sich bereits, denn wenn es Jemanden gab, der stets die Pünktlichkeit in Person war, dann war das ja wohl er, Alexander. Allerdings war es unmöglich Bruder Klaus zufriedenzustellen, denn dieser war von Zeit im Allgemeinen und Uhren im Besonderen geradezu besessen. Wenn er nicht gerade in der Werkstatt an seiner Arbeit saß, dann verbrachte er den lieben langen Tag damit, eine seiner Uhren zu putzen, aufzuziehen, nachzustellen oder einfach nur in seiner Hosentasche zwischen seinen Fingern rotieren zu lassen. Letzteres musste man wenigstens nicht mit ansehen, wenngleich man, wenn man ihn lang genug kannte, ahnte, dass er die Uhr sogleich ans Tageslicht bringen würde. Klaus hatte immer eine Uhr in der Hand. Obwohl er schon an beiden Handgelenken je eine Uhr trug und sogar eine winzige, einem herzförmigen Anhänger ähnelnde Uhr an einer Kette um den Hals trug. Häufig wechselten auch die Modelle.
“Haben Sie heute Ihren Termin?”, fragte Klaus, ungewöhnlich interessiert.
“Ja, der Abt möchte mich heute sehen, so wie jeden Monat.”
“Der Abt? Nicht dass Sie da auch so unpünktlich sind, das würde ihm gar nicht gefallen”, neckte ihn Klaus.
“Ich bin niemals unpünktlich. Vielleicht geht Ihre Uhr ja vor.” Damit hatte Alexander den Ball wieder in die Spielhälfte seines Gegenübers gespielt. Denn wenn Klaus eine Kritik nicht ertragen konnte, dann diejenige, dass eine seiner Uhren nicht die richtige Zeit anzeigte. Klaus schnaufte. Sichtlich nervös befingerte er die Uhr an seinem linken Handgelenk, schaute zwei, dreimal auf ihr digitales Display und verglich die Zeit mit der Uhr, die er in der Hand hielt. Keine seine Uhren ging vor, dessen war er sich ganz sicher. Unerhört sei so etwas, dachte sich Klaus, und begann wieder von vorne, seine Uhren miteinander zu vergleichen.
Alexander hatte sein Ziel erreicht. Sein Sitznachbar war fürs Erste beschäftigt. Somit konnte er sich endlich wieder ungestört seinem Müsli widmen. Ab und an trank er einen Schluck Milch, ohne noch an irgend etwas Bestimmtes zu denken.
…
Franziska hatte einen fünfzig Euro Schein in die neben dem Rednerpult aufgestellte Schatulle gelegt und fand, damit ihrer Schuldigkeit zur finanziellen Hilfe bedürftiger Schüler ihrer alten Schule nachgekommen zu sein. Nach der Rede des Rektors war Bewegung in die Absolventen des Jahrgangs von 1989 gekommen. Vor dem Podium der Aula wurde Sekt serviert. Franziska griff bereits nach dem zweiten Glas. Angeregt unterhielt sie sich mit einer Frau, die während der ersten Jahre an der Schule vielleicht sogar ihre beste Freundin gewesen sein mochte. Hans stand auch daneben, hörte aber eher geduldig zu und nippte bisweilen an seinem Sektglas. Christine wollte scheinbar alles in Erfahrung bringen, was sich in Franziskas Leben über die vergangenen zwanzig Jahre getan hatte. Da Franziska sich stets gerne reden hörte - eine unabdingbare Voraussetzung für ihren Beruf - gab sie bereitwillig Auskunft. Die beiden Frauen sprachen bald schon über ihre Kinder. Christine hatte eine Tochter, hätte aber gerne noch einen Sohn bekommen. Als auch dieses Thema fürs Erste die beidseitige Neugier befriedigt hatte, sprachen sie über ihre Männer. Hans ahnte, worauf die Sprüche und Scherze der beiden Frauen hinauslaufen würden.
“Warst du nicht damals mit dem Karsten aus dem Jahrgang über uns zusammen?”, fragte Franziska grinsend.
“Nein, also doch…”, wand sich Christine. “Irgendwann waren wir wohl auch ein Paar. Aber so nannten wir das damals nicht. Er ist mit mir gegangen!”
“Jaaa!”, gluckste Franziska, “Willst du mit mir gehen? So einfach war das. Und schwupps war man zusammen. Wenn das heute mal so leicht wäre!” Beide Frauen kicherten hemmungslos.
Hans fühlte sich an endlose Pausen auf dem Schulhof erinnert, in denen er in gleicher Weise neben Franziska, Christine und noch ein paar Anderen gestanden hatte, meist schweigsam, immer aber aufmerksam lauschend, vor allem auf Franziska. Ob sie jemals geahnt hatte wie sehr er in sie verliebt gewesen war? All die Jahre, eigentlich die ganze Zeit, bis die Klassen in der Oberstufe aufgelöst wurden und er sie nicht mehr jeden Tag sehen musste. Ja, musste. Denn im Grunde war es eine Qual für ihn. Aber er war einfach nicht der Typ, der Frauen erfolgreich umgarnen konnte. Das wusste er schon sehr früh. Gerade deswegen fassten sie so leicht Vertrauen zu ihm, dachte er. Er war vertrauenswürdig, ein guter Zuhörer und einfach ungefährlich für das andere Geschlecht. Im Falle von Franziska hätte ihm aller Mut der Welt aber auch damals schon nicht geholfen, dessen war er sich ganz sicher. “Was ist eigentlich aus Alexander geworden?”, schaltete er sich in das Gespräch ein. Es schien ihm der passende Moment zu sein.
“Ja genau”, fügte Christine hinzu und schaute Franziska dabei durchdringend an. “Ihr wart doch die Ersten aus unserer Klasse, die ein Liebespärchen wurden. Und wir anderen Mädchen waren ganz neidisch, nicht mal unbedingt auf Alexander, sondern einfach darauf, dass du schon so weit warst und wir noch mit unseren Zahnspangen zu kämpfen hatten”, fügte sie lachend hinzu.
“Irgendjemand hat mir heute gesagt, dass er in einem Kloster lebe. Das passt ja auch zu ihm, er war immer ganz schön nach innen gekehrt”, antwortete Franziska nachdenklich. Wobei sie sich eigentlich nicht als die Autorität fühlte, die über den ersten Mann in ihrem Leben Auskunft geben konnte. Mindestens zehn Jahre hatte sie nichts mehr von ihm gehört. Ein paar Jahre nach dem Abitur hatten sie sich noch ein paar Mal gesehen, auch wenn sie schon längst kein Paar mehr gewesen waren. Meist, wenn sie beide im Sommer während der Semesterferien zurück in Berlin waren, um ihre Eltern zu besuchen. Sie hatte in Köln studiert und Alexander in München. Aber dann erhielt sie plötzlich keine Antwort mehr auf ihre Emails. Mit Hilfe seiner Eltern gelang es ihr dann noch ein einziges Mal, ihn ans Telefon zu bekommen, als er gerade mal wieder in der Hauptstadt war. Er wirkte sehr verschlossen, stellte ihr nicht eine einzige Frage nach ihrem Befinden, und nach einer Viertelstunde schon war das Gespräch beendet. Das war das letzte Mal, dass sie seine Stimme gehört hatte. Sie würde ihn an dieser auch nach Jahrzehnten noch wiedererkennen, dessen war sie sich sicher.
Und als niemand eine weitere Frage stellte, fügte Franziska hinzu: “Es wurde einfach irgendwann zu schwierig mit ihm. Seine Depressionen nahmen überhand für mich. All die Jahre hatte ich das Gefühl, dass ich ihm helfen sollte und könnte, ihn aufbauen, aktivieren könnte. Aber er verließ das Haus seiner Eltern tagelang nicht mehr. Ein Wunder, dass er das Abitur damals noch geschafft hat. Sein Studium hat er, glaube ich, nie zu Ende gebracht. Ich hatte das Gefühl, nicht mehr an ihn heranzukommen.”
…
Vom Frühstückssaal ging Alexander schnurstracks in die Kloster-Werkstatt. Heute war er sogar der Erste, der an einer der grau-blauen Werkbänke Platz nahm. Selbstverständlich setzte er sich nicht an irgendeine Werkbank, sondern an seine Werkbank, die die er jeden Tag besetzte, die sich aber eigentlich bis auf eine in einem Glas stehende Kuckucksfeder in keiner Weise von allen anderen Werkbänken unterschied. Bruder Hagen, der eigentlich kein Bruder war, den Alexander aber trotzdem so nannte, weil er einfach alle Mitbewohner Bruder nannte, und der die Aufsicht über die Werkstatt hatte, kam zu Alexander herüber und begrüßte ihn.
“Guten Morgen, Alexander, wie geht es uns heute?”, fragte Hagen mehr rhetorisch als ernsthaft interessiert.
“Gut, gut, danke”, murmelte Alexander abwesend, in Gedanken sich bereits die Teile für den ersten Arbeitsschritt zurechtlegend. Aber dann fügte er doch noch schnippisch hinzu: “Eigentlich sind wir ja nur ich.”
“Ja, natürlich!”, lachte Hagen. “Wir sind ja heute schon früh bei der Sache.” Dabei legte er seine rechte Hand anerkennend auf Alexanders linke Schulter. “Also Sie!”
Alexander mochte es nicht, wenn man ihn berührte. Besonders nicht, wenn Hagen dies tat. Obwohl er Hagen eigentlich ganz gut leiden konnte. Schließlich war der Bruder, der kein Bruder war, einer der Wenigen, mit denen Alexander sich manchmal über Dinge unterhalten konnte, die ihn wirklich interessierten. Dinge, die nicht das Leben im Kloster betrafen, nicht ihn selbst. Bei den gelegentlichen Ausflügen in den Stadtwald liefen die beiden meist nebeneinander her und diskutierten solche existentielle Fragen wie die, ob es Leben außerhalb unseres Sonnensystems gibt. Alexander refererierte dann durchaus eindrucksvoll sein angelesenes Wissen. Aber die Werkstatt war nicht der richtige Ort für solche Gespräche. “Ich muss heute früh fertig werden.”
“Ja, das ist sehr löblich!” rief Hagen fast ein wenig zu laut, dafür dass außer ihnen niemand in der Nähe war. “Was haben wir denn heute noch vor?”
Alexander ignorierte diesmal die falsche Anrede.
“Ich habe heute noch meinen Termin beim Abt”, sagte Alexander, während er die Lampenfassung am Fuß festschraubte. Dann fädelte er die Kabel durch den kurzen Ständer und klemmte sie an die Fassung. Er zog an beiden Litzen, um sicherzustellen, dass sie nicht wieder herausrutschen konnten. Dies alles tat er beinahe blindlings, seine Hände wussten, was sie zu tun hatten, so oft hatten sie diese Arbeitsschritte bereits ausgeführt.
“Ah, beim Abt, soso,” sagte Hagen und zwinkerte Alexander dabei zu. Mit einem kurzen Winken begrüßte er zwei andere Männer, die mittlerweile an ihren Arbeitsplätzen Platz genommen hatten. Dann schaute er wieder Alexander zu, wie dieser die fertige Lampe mit einer Glühbirne testete und in einem Korb ablegte, der auf einem fahrbaren Gestell rechts neben ihm stand. “Wie verlief denn eigentlich Ihr letzter Termin dort? Konnten Sie ihn von Ihrem Ausflugsplan überzeugen?”
Wenigstens sprach Hagen diesmal nicht von uns, dachte sich Alexander. “Kein Ausflug. Ein Klassentreffen. Ich wollte zu einem Klassentreffen reisen. Also eigentlich mein ganzer Abiturjahrgang, nicht nur meine Klasse.”
“Und was hat der Abt Ihnen gesagt?”, fragte Hagen, obwohl der die Antwort bereits kannte.
“Er hat mich davon überzeugt, dass es besser sei, wenn ich nicht nach Berlin reisen würde. Er sagte, ich sei noch nicht so weit.”
…
Der Abitur-Jahrgang des Jahres 1989 hatte sich mittlerweile in kleinen Gruppen auf den Fußweg in Richtung des nahegelegenen Restaurants Zur Ackerkrume gemacht. Damals hieß es noch Landhaus. Keine wirkliche Verbesserung, dachte sich Hans. Er nutzte die Gelegenheit, um mit seinem ehemaligen Klassenlehrer Herrn Franz ins Gespräch zu kommen. Herr Franz, den alle seit jeher nur etwas respektlos “Franz” nannten, war bereits im Ruhestand und hatte sich extra zu dem Treffen wieder an seine alte Wirkstätte begeben. Er sah fast noch so aus wie damals, etwas dünner zwar, aber sein jungenhaftes Gesicht strahlte wie eh und je jeden in seiner Umgebung einnehmend an. Er war einer der Lehrer, vor denen niemand Angst haben musste. Nie gab es ein böses Wort von ihm, stets blieb er freundlich, fröhlich, geradezu liebenswürdig. Die Schüler mochten ihn alle, ausnahmslos. Selbst die ewigen Störenfriede, von denen es in Hans’ Klasse glücklicherweise höchstens zwei oder drei gegeben hatte, bissen sich an Herrn Franz die Zähne aus. Jeder Versuch, ihren Lehrer zu provozieren, versandete, jeder Streich auf seine Kosten wurde mühelos in eine humorvolle Geste oder Geschichte umgewandelt.
“Franz, wie geht es ihrer Frau?”, fragte Hans.
“Sie ist vor zwei Jahren gestorben. Ich lebe jetzt allein”, sagte Herr Franz.
“Oh, mein Beileid, das tut mir sehr Leid für Sie”, sagte Hans. Es war ihm peinlich, dass er davon nicht vorher erfahren hatte. Aber Herr Franz lächelte weiterhin oder zumindest schien es so. Denn ganz sicher war sich Hans nie gewesen, ob sich das Lächeln nicht einfach nur dauerhaft in die Gesichtszüge seines Lehrer eingegraben hatte, ohne dass es zwingend seiner Gemütsverfassung entsprechen musste. Niemand wunderte sich, wenn - wie bei so vielen Menschen - der Missmut die Lippen nach unten zog und die Augen einen aus tiefen Höhlen böse anstarrten. Jedem erschien das mit dem Alter das Normalste von der Welt zu sein. Aber wenn mal jemand den Frohmut in seiner Physiognomie konserviert hatte, so wie Herr Franz, dann war das etwas Besonderes, konnte aber ebenfalls in die Irre führen, mutmaßte Hans.
Hans wechselte das Thema. “Wissen Sie noch damals, unsere Klassenfahrt nach Jerusalem?”
“Oh ja!”, fiel ihm Herr Franz fast ins Wort. “Natürlich erinnere ich mich noch sehr gut daran. Das war wirklich ein unvergessliches Erlebnis!” Dabei lachte er etwas gekünstelt.
“Ich wette, es war nicht so einfach für Sie, uns überall beisammen zu halten. Ich denke nur an unseren Ausflug auf den Altstadt-Basar oder die Menschenmengen vor der Klagemauer. Wie haben Sie es bloß geschafft, dass niemand von uns verloren ging?”, fragte Hans nicht ganz ernst gemeint.
“Das war in der Tat nicht ganz einfach. Aber ihr wart ja auch keine kleinen Kinder mehr. Ich konnte mich auf euch, vor allem auch auf dich, verlassen. Aber als ihr Jungs auf dem Markt beinahe unsere hübsche Claudia gegen ein Kamel eintauschen wolltet, da musste ich dann doch mal einschreiten.” Beide lachten herzhaft. “Sie ist heute nicht gekommen, oder?”
“Nein, sie scheint nicht dabei zu sein. Ich habe auch keinen Kontakt mehr zu ihr”, sagte Hans. “Was haben Sie eigentlich damals zu der Geschichte mit Alexander gedacht? Er ist heute ebenfalls nicht gekommen.”
Die Geschichte mit Alexander hatte zum Abbruch der Reise geführt und blieb für lange Zeit Gesprächsstoff an der Schule. Fast hätte Sie auch zur Entlassung von Herrn Franz geführt, dem die Verletzung seiner Aufsichtspflicht vorgehalten worden war. Doch weil sich die anderen Schüler, vor allem auch Hans, so für Herrn Franz eingesetzt hatten, durfte dieser weiterhin an der Schule unterrichten.
Während des Ausflugs in die Negev-Wüste bekam jeder Schüler ein Schweizer-Armeemesser vom israelischen Touristenführer Ari geschenkt. Er demonstrierte den Jugendlichen, wie man damit eine Konservendose öffnet oder das Feuerholz zerteilt, und vor allem die Jungs widmeten sich ihrem neu gewonnenen Spielzeug hingebungsvoll. Nach einer stimmungsvollen Nacht unter einem perlmuttblauen Sternenhimmel, wurde die Reisegruppe jedoch am nächsten Morgen von einem schrillen Schrei unsanft aus dem Schlaf gerissen. Die schöne Claudia kreischte in einer panischen Aneinanderreihung unverständlicher Silben, unter denen nur der Name von Herrn Franz auszumachen war. Binnen Sekunden waren alle hellwach. Herr Franz hatte sich bereits aus seinem Schlafsack gewunden und war zu Claudia hinüber gerannt. Neben Claudia hatte Alexander gelegen. Sein Gesicht war nicht zu sehen und in den Schlafsack vergraben. Aber die untere Hälfte des Schlafsacks war vollkommen nass. Oder nicht nass. Als Herr Franz allmählich verstand, dass es um Alexander und nicht um Claudia ging, tastete die dunklen Stellen ab und schaute dann auf seine Handflächen. Sie waren rot vom frischem Blut. In diesem Moment stand auch schon Ari neben ihnen, dem anscheinend sofort klar war, was zu tun war. Als ehemaliger Kommandeur einer israelischen Fallschirmjäger-Kompanie behielt er klaren Kopf, zog Alexander aus dem Schlafsack heraus und suchte nach der Wunde. Alexander schien zu schlafen, seine Augen waren geschlossen und auf seinem Gesicht zeichnete sich so etwas wie ein Lächeln ab. In der rechten Hand hielt er noch lose das Taschenmesser mit aufgeklappter Klinge. Seine linke Hand lag leblos auf seinem Bauch, das Blut immer noch aus den Pulsadern sickernd. Blitzschnell band Ari den Arm ab und brachte Alexander in eine Seitenlage. Während er sich weiter um Alexander kümmerte, schaffte er es noch, mit dem Funkgerät einen Rettungshubschrauber herbeizurufen, der nur zwanzig Minuten später neben ihnen landete und Alexander in ein Militärkrankenhaus brachte.
“Ich war wie paralysiert”, erinnerte sich Herr Franz. “Ich weiß noch wie unnütz ich mir vorkam. Ich hatte doch auch einen, ja sogar mehrere Erste-Hilfe-Kurse besucht. Aber in diesem Moment war ich wie versteinert. Ohne Ari wäre Alexander womöglich gestorben.”
“Es gab keinerlei Anzeichen für seinen Selbstmordversuch”, wiederholte Hans, was er schon vor zwanzig Jahren immer wieder gesagt hatte. “Sie müssen sich keine Vorwürfe machen. Niemand konnte ahnen, dass so etwas passieren würde. Vermutlich nicht mal Alexander selbst.”
…
Für den Nachmittag war Alexander von der Arbeit freigestellt worden. Im Gegensatz zu seinen Mitbewohnern, hielt sich seine Freude darüber jedoch in Grenzen. Er bevorzugte die Regelmäßigkeit, außerdem mochte er seine Tätigkeit in der Werkstatt. Manuelle Arbeit beruhigte ihn. Routine war es, die seinem Leben Ordnung gab. Aber nun gut, dachte er. Heute stand die monatlich wiederkehrende Visite beim Abt an. Auch eine Art von Routine, aber für Alexanders Geschmack bei weitem nicht häufig genug. Sein Termin war um drei Uhr nachmittags. Er saß bereits zwanzig Minuten zu früh auf einem der kahlweißen Wartestühle im Flur vor dem Zimmer. Eigentlich waren es mehrere Zimmer, die jeweils eine Tür zum Gang besaßen, aber auch untereinander verbunden waren. Heute war er der Einzige, der hier wartete. Manchmal begegnete er bei seinem Termin Bruder Werner, der zwar eigentlich die Sprechstunde nach ihm zugewiesen bekommen hatte, aber gerne mal schon stundenlang vorher unruhig auf einem der Plastiksitze hin und her rutschte. Vor ihm schien heute niemand an der Reihe gewesen zu sein, denn bereits fünf vor Drei wurde er von einem der Brüder, die für den Abt arbeiteten, hinein gebeten.
“Alexander, es freut mich, Sie zu sehen! Wie geht es uns denn heute?”, begrüßte der Abt Alexander, streckte ihm die Hand entgegen und setzte sich dann wieder hinter seinen Schreibtisch. Schon wieder diese Anrede, ging es Alexander durch den Kopf, aber dem Abt nahm er es aus irgendeinem Grund nicht übel. Der Abt trug einen langen weißen Kittel, dessen Brusttasche vollgestopft war mit einem Notizbuch, diversen Kugelschreibern und seiner Lesebrille. Er war noch nicht sehr alt, vielleicht Ende dreißig, aber sein kurz geschnittenes Haar bereits graumeliert. Seine hellwachen Augen schauten einen aus einem für seinen schlanken Körperbau viel zu breiten Gesicht an.
“Sehr gut.”, sagte Alexander etwas emotionslos. “Ich wäre zwar heute lieber in den Stadtwald gegangen, aber es ist ja bedauerlicherweise kein Wandertag.”
“Was wollten Sie denn im Stadtwald tun?”, fragte der Abt, der die Antwort bereits kannte.
“Es gibt da eine Stelle, an der ich ein Falkenpärchen vermute, unterhalb des Nestes finden sich bestimmt ein paar wunderschöne Federn, die ich meiner Sammlung einverleiben kann.”, begeisterte sich Alexander.
Beinahe wäre ihm der Abt ins Wort gefallen. “Ja, Alexander, das haben Sie mir doch schon letzten Monat erzählt. Haben Sie nicht bereits genug Federn in ihrer Sammlung? Hagen hat mir berichtet, dass ihr Zimmer schon fast überquillt. Und ein Größeres können wir Ihnen leider nicht zuweisen, das wissen Sie ja.” Er schaute dabei mitleidig. Dann gab er, von Alexander unbemerkt, der in der Tür zum Nachbarraum stehenden Frau, Schwester Inge, ein Zeichen, sie solle alles für die Blutentnahme vorbereiten. Diese verschwand kurz in dem anderen Zimmer und kam mit den notwendigen Utensilien wieder, setzte sich auf einen Hocker neben Alexander und krempelte ihm den Ärmel hoch.
“Haben Sie denn ihre Medikamente wie besprochen genommen?”, fragte der Abt.
Die Schwester band seinen Oberarm ab, entnahm die sterile Nadel ihrer Verpackung, setzte sie auf die Spritze und stach zu. Alexander nahm davon fast keine Notiz, so sehr hatte er sich an diese Prozedur gewöhnt. “Natürlich, alles bestens.”, gab er zur Antwort.
“Haben Sie denn einen Unterschied feststellen können? Wir haben die Zusammenstellung ja nun schon vor zwei Monaten geändert. Hat sich Ihr Schlaf verbessert?”
“Doch. Ich glaube schon”, gab Alexander unsicher zu Protokoll. “Wenn ich ehrlich bin, ist es nicht viel anders. Aber manchmal schlafe ich durchaus zwei oder drei Stunden am Stück.”
Der Abt schrieb ein paar Notizen auf ein fast blankes Stück Papier, das vor ihm ganz oben in einen umfangreichen Ordner geheftet war, der Alexanders vollständigen Namen auf dem Deckel trug. Schwester Inge hatte die Spritze bereits wieder abgesetzt, einen Wattebausch auf das Einstichloch gedrückt und mit etwas Klebeband befestigt. Sie verschwand im Nebenzimmer, um die Blutprobe sogleich zu untersuchen. “Sie hatten mich ja bei unserem letzten Termin gefragt, ob Sie zu dem Treffen Ihres Abiturjahrgangs reisen könnten. Ihrem Klassentreffen. Hat es denn mittlerweile stattgefunden und haben Sie etwas davon gehört?”, fragte der Abt.
“Nein. Aber ich nehme an, dass es stattgefunden hat. Es war letzten Samstag. Seit der Einladung habe ich nichts mehr davon gehört.”
“Na, vielleicht schickt man Ihnen ja noch ein paar Fotos. Das ist doch immer das Interessanteste, zu sehen, wie die Menschen sich verändert haben und wen man überhaupt noch wiedererkennt.”, versuchte der Mann in dem weißen Kittel Alexander aufzumuntern. “Ich bin sicher, dass es nicht das letzte Klassentreffen war. Beim nächsten Mal sind Sie wieder dabei!”
Alexander hörte kaum richtig zu. Er wunderte sich, warum der Abt kein Kreuz um den Hals trug, wie Äbte das doch für gewöhnlich taten. Stattdessen baumelte dort nur eine Keycard für irgendeine Tür an einem grell-grünen Band. Mittlerweile war die Schwester wieder in das Zimmer zurückgekehrt, hatte dem Abt einen Zettel mit dem Untersuchungsergebnis auf den Tisch gelegt und wieder verschwunden. “Alles bestens”, sagte der Abt nach einem kurzen Blick auf den Zettel. “Ihre Werte haben sich sehr verbessert. Wir sehen uns dann in einem Monat wieder, wenn nichts dazwischen kommt.” Er stand auf, reichte Alexander zum Abschied die Hand und geleitete ihn zur Tür.
…
Es war bereits später Abend. Im Landhaus war noch ein gutes Dutzend Ehemalige an der Bar versammelt. Die Meisten hatten sich nach dem Essen verabschiedet, um zu ihren Familien zurückzukehren. Herr Franz war ebenfalls noch dageblieben. Er stand mit Robin ein wenig abseits der Bar und hielt ein viel zu großes Bierglas in der Hand. Franziska, Hans, Martin und Christine bildeten eine Gruppe, die Frauen auf Barhockern sitzend, die Männer standen um sie herum. Allerlei Anekdoten hatten sie schon ausgetauscht, und je mehr sie tranken, desto ausgelassener unterhielten sie sich. Da war z.B. die Geschichte vom Abistreich. Martin und ein paar Jungs aus seiner Klasse hatten die glorreiche Idee, den gelben C&A-Hund mit den roten Punkten, genannt Schnuppi, der als riesiges aufblasbares Gummitier auf dem Dach der Filiale in der Fußgängerzone thronte, zu klauen und vom Turm des Goethe-Gymnasiums herunter baumeln zu lassen. Es brauchte einen Feuerwehrzug samt Leiterwagen am Morgen nach den letzten Abiprüfungen, um das Tier wieder einzufangen. Währenddessen lag der Unterricht brach. Hunderte Schüler hatten sich feixend im Pausenhof versammelt. Martin wollte erst jetzt zugeben, dass er hinter der Sache steckte und war stolz, dass ihn damals niemand verpfiffen hatte.
Christine schoss derweil allerlei Fotos und Selfies von sich und den Anderen mit ihrem Smartphone. “Kannst du mir die Fotos hinterher schicken?”, fragte Franziska sie. Sie musste wieder an Alexander denken. “Vielleicht kann ich Alexander ja auch ein paar davon zusenden. Wer hat eigentlich seine Adresse? Jemand muss ihm doch die Einladung geschickt haben.”
“Ja, das war ich”, schaltete sich Martin in das Gespräch ein. “Aber in einem Kloster lebt er nicht. Obwohl dies ein sich hartnäckig haltendes Gerücht zu sein scheint. Er lebt wohl immer noch in der Stadtwald-Klinik, in der geschlossenen Abteilung. Jedenfalls habe ich diese Auskunft vom Meldeamt erhalten und die Einladung dorthin geschickt. Allerdings keine Antwort erhalten.”
“In der geschlossenen Abteilung?” Franziska war geschockt. “Wie ist das möglich? Hat er jemandem etwas angetan? Das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen.”
“Vielleicht dient es ja nur seinem eigenen Schutz”, sinnierte Hans. “Er war doch nach der Israel-Fahrt schon in psychatrischer Behandlung, oder?”
“Ja, aber eigentlich war er danach wieder ganz der Alte. Er hat mir von seiner Behandlung eigentlich nie etwas erzählt. Irgendwelche Medikamente hat er genommen. Das wusste ich. Aber er war doch nun wirklich keine Gefahr für Andere. Daß unsere Beziehung nicht gehalten hat, lag nicht daran.” Dabei schaute sie in die Runde, also ob sie Vorwürfe erwarten würde.
Martin überlegte eine ganze Weile, ob er seiner journalistischen Pflicht treu bleiben oder seine Klassenkameraden aufklären sollte. Dann entschloss er sich doch dazu, Franziska einzuweihen. “Weisst du”, dabei schaute er nur sie an, “vor ein paar Jahren gab es hier einen spektakulären Prozess. Eigentlich waren es sogar zwei Prozesse. Ein junger Mann, der noch bei seinen Eltern wohnte - oder wieder, wie sich herausstellte - hatte eines Nachts fast alle Nachbarn in seiner Straße durch lautes Schreien geweckt. Etliche kamen an ihre Fenster, Einige gingen sogar auf die Straße hinaus, um zu sehen, was dort im Haus des jungen Mannes los war. Der Mann schrie ‘Feuer, Feuer’ oder “es brennt” und kam immer wieder ans Fenster, welches im zweiten Stock des Reihenhauses lag. Es war aber kein Feuer zu sehen, auch kein Rauch. Nachdem er ein paar Minuten am offenen Fenster herumgeschrien hatte, mussten die Anwohner plötzlich ein Handgemenge mit ansehen. Sekunden später stürzte eine ältere Frau, von dem Mann aus dem Fenster gestoßen, auf die Straße und war sofort tot. Wie sich herausstellte, war es seine eigene Mutter. In der Presse wurde er nur A.S. genannt, zu seinem eigenen Schutz.”
Franziska hatte Tränen in den Augen und blieb zum ersten Mal an diesem Abend sprachlos. Hans brach die Stille und fragte: “Und das war Alexander?”
“Ja. Ich war selber schockiert als ich ihn zum ersten Mal bei der Verhandlung vor Gericht sah. Er wirkte vollkommen abwesend, Trauer war ihm nicht anzumerken. Er blieb dabei, dass es im oberen Stockwerk gebrannt hätte und er seine Mutter vor dem sicheren Tod retten wollte. Zwei Gutachter stellten seine Schuldunfähigkeit fest und das Gericht beschloss seine Einweisung in die Stadtwald-Klinik.
“Und worum ging es in dem zweiten Prozess?”, fragte Hans.
“Da wurde dann noch der damals behandelnde Arzt von Alexanders Vater verklagt. Alexander hatte wohl die ganze Zeit schon Medikamente genommen. Oder eben nicht, wie der Vater vermutete. Doch der Arzt hatte die Einnahme der Psychopharmaka nicht kontrolliert. Letztendlich gab es nur eine Geldstrafe. Ich glaube, vom Vater stammt auch die Geschichte mit dem Kloster. Alexander selbst bildet sich wohl ein, in einem Kloster untergebracht zu sein.”
“Ich kann nicht glauben, dass ich nie davon erfahren habe”, fand Franziska ihre Stimme wieder.
Viel wurde nicht mehr geredet an diesem Abend. Franziska trank den restlichen Wein in ihrem Glas, umarmte die wenigen verbliebenen Mitschüler und verabschiedete sich. Hans war nicht unglücklich, dass die Runde sich nun auflöste, denn seine Frau würde ihm bestimmt schon Vorwürfe machen, dass er so spät nach Hause kam. Martin und Christine beschlossen, noch gemeinsam eine Bar in Mitte aufzusuchen und stiegen in ein Taxi.
…
Es war wieder Ruhe in die Stadtwald-Klinik eingekehrt. Auf dem Flur war kein Geräusch, kein Türenschlagen und vor allem keine Stimmen mehr zu hören. Alexander saß auf seinem Bett, obwohl es schon weit nach Mitternacht war. In seinem Zimmer brannte nur die kleine Nachttischlampe und tauchte den Raum in dünnes Licht. Er beugte sich unter sein Bett und holte einen Briefumschlag hervor, den er gestern erhalten und dort deponiert hatte. Vielleicht hatte er den Abt ja angeschwindelt als er sagte, er hätte noch keine Nachrichten von dem Klassentreffen erhalten. Die Absenderin des Briefes war Franziska. Da er keinen Brieföffner besitzen durfte, öffnete er das Kuvert mit seinem Zeigefinger. Entgegen kamen ihm eine Handvoll ausgedruckter Fotos und ein handgeschriebener Zettel mit Franziskas unterschrift. Den Zettel legte er zunächst zur Seite und schaute sich die Fotos der Reihe nach an.
Auf dem Ersten war der gesamte Jahrgang abgebildet. Also all diejenigen, die zu dem Treffen gekommen waren. Es war, als schaute er in lauter fremde Gesichter. Dann meinte er, doch zumindest Martin zu erkennen. Und Herrn Franz. Den erkannte er auch. Nach und nach fielen ihm weitere Namen ein. Er interessierte sich fast mehr für das im Hintergrund zu sehende Schulgebäude. Es sah noch genauso aus wie damals. Die Fassade grau-braun, die Fenster antik und mit blättriger Farbe, der geschotterte Pausenhof. Auf dem nächsten Foto war Herr Laumann am Rednerpult der Aula abgebildet. Auch ihn erkannte Alexander. Dann folgten einige Fotos, auf denen kleine Gruppen, meist nur zwei oder drei Personen abgelichtet waren. Offensichtlich in einem Restaurant aufgenommen. Alle lachten und umarmten sich oder prosteten sich zu. Im Hintergrund war ein Tresen zu erkennen. Er meinte, Hans ausmachen zu können, war sich aber nicht sicher. Falls er es war, hatte er sich ganz schön verändert. Franziska war auch auf einem der Fotos abgebildet. Sie sah noch so aus wie er sie in Erinnerung hatte. Das letzte Foto stammte offensichtlich nicht vom Klassentreffen. Es zeigte Franziska mit ihren drei Kindern. Zwei Töchter und ein Sohn. Die ältere der beiden Töchter sah wie Franziska aus. Niemand schaute in die Kamera, alle lachten sich an. Alexander spürte nicht viel beim Betrachten der Fotos, obwohl er sich jedes Bild sehr genau anschaute.
Dann nahm er den Zettel erneut in die Hand. Es waren nur wenige handschriftliche Zeilen. Unverkennbar handelte es sich um Franziskas Schrift. “Lieber Alexander, ich schicke dir heute ein paar Eindrücke von unserem Abitreffen, an dem du nicht teilnehmen konntest. Vielleicht erkennst du uns ja wieder, auch wenn sich Einige zugegebenermaßen ganz schön verändert haben ;-) Auf dem letzten Foto bin ich mit meinen drei Kindern zu sehen, Angelika, Maria und Alexander. Ja, du hast richtig gehört. Mein Jüngster heißt Alexander. Ich hoffe sehr, dass es dir gutgeht und umarme und küsse dich, Deine Franziska”
Er stellte das Foto von Franziska und ihren Kindern auf den Nachttisch, die anderen steckte er in den Umschlag zurück. Dann legte er sich auf sein Bett ohne sich auszuziehen und machte das Licht aus. Er lag noch eine ganze Weile so da, starrte die hohe Decke an und konnte nicht einschlafen. Lange hatte er nicht mehr an Franziska gedacht. Aber jetzt erschien sie ganz lebendig vor seinem inneren Auge. Ihr kastanienbraunes, sehr kurz geschnittenes Haar, das den Blick auf ihren grazilen Hals freigab, den er so oft geküsst hatte. Ihre weit auseinanderliegenden Augen, die einen wach und intelligent, oft fordernd ins Visier nahmen. Wie sie immer gegen ihn gewann, wenn es darum ging, wer länger vermochte, den Blick des Anderen auszuhalten ohne zu blinzeln. Und wie sie im Garten ihrer Eltern auf einer Decke in der Sommerwiese lagen und sie seine Hand, manchmal für Stunden, in der ihren hielt, ohne dass sie viel miteinander reden mussten.
Zum ersten Mal seit vielen Jahren fühlte er etwas, von dem er nicht wusste, ob es Freude oder Trauer war. Sein Gleichmut, den er auf die Medikamente zurück führte, die er jeden Tag nehmen musste, wich für einen Moment einem warmen Schauer, der ihn durchströmte. Er stand noch einmal auf, ging im Dunkeln zu seiner Kleiderkommode, öffnete die unterste Schublade und wühlte in den Hosen, die dort gestapelt lagen. Zwischen zwei Lagen fand er, wonach er gesucht hatte. Ein kleines Stück Glas von einem Spiegel, der vor einiger Zeit in seinem Zimmer zerbrochen war. Er nahm es in die rechte Hand, legte sich wieder aufs Bett und schloss die Augen. Dann führte er die Scherbe an sein linkes Handgelenk und schnitt tief durch die Haut. Er spürte fast keinen Schmerz, nur das warme Blut, welches an seinem Arm herunter strömte. Es war ein wohliges Gefühl, und ein Lächeln zeichnete sich auf seinem Gesicht ab.
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